Als vor zehn Jahren «Qwixx» auf den Markt kam, ahnte wohl niemand, dass dieses auf den ersten Blick unscheinbare Würfelspiel einen regelrechten Boom auslösen würde. Nach der Nominierung zum «Spiel des Jahres» gab es in der Branche kein Halten mehr, und praktisch alle Anbieter hatten und haben seither ein so genanntes Roll & Write-Spiel in ihrem Programm.
Roll & Write-Spiele? Dazu braucht es nicht viel: Ein paar Würfel (mitunter Karten), ein spezieller Block, auf dem die Ergebnisse notiert werden, und ein paar Stifte, genau so wie genau … ja «Yahtzee» (bekannt auch unter dem Namen «Kniffel»), das als die Mutter aller Roll & Write-Spiele gilt. Ein Spielklassiker, von dem garantiert ein Exemplar in jedem Haushalt vorhanden ist, in dem ein oder ein paar Mal pro Jahr gespielt wird.
Eine Gattung für alle
Die Beliebtheit und damit breite Publikumserfolg dieser Spielegattung kommen nicht von ungefähr: Einfaches Spielprinzip, das einen direkten Einstieg ermöglicht, schneller und spannender Spielverlauf, Nervenkitzel, emotional und die Würfel, die sagen, was für alle am Tisch gilt, egal ob jung oder alt, Frau oder Mann, Viel- oder Wenigspieler.
Spiele dieser Art sind für die Verlage so etwas wie eine «Brotschrift», das heisst Spiele, mit denen sich einfach Umsatz und Ertrag generieren lassen: Auf der einen Seite beliebt beim Publikum, auf der anderen ohne grossen Aufwand zu produzieren, was sowohl die Entwicklung, als auch Herstellung betrifft. Dieser letzte Punkt ist angesichts der weltweiten Knappheit an Material und Produktionsstätten, die sich auch im Bereich der Spiele negativ bemerkbar macht, nicht ganz unbedeutend.
Mit dem besonderen Dreh
Mit blossen Kopien der beiden Platzhirsche «Yahtzee» und «Kniffel» ist allerdings kein Geschäft zu machen. Das wissen die Verlage auch. Welche Innovationen in diesem Genre möglich sind, haben Steffen Benndorf als Autor und der Nürnberger NSV-Verlag mit «Qwixx» schon mal demonstriert. Schmidt-Spiele sind gefolgt mit der «Clever»-Reihe, andere wiederum, wie etwa Thunderworks und Grok Games mit «Der Kartograph» (bei Pegasus erschienen), haben das abstrakte Spielprinzip in ein Thema verpackt und auf diese Weise quasi veredelt. Was bei diesem Spiel auch noch auffällt: Hier übernehmen Karten die Funktion der Würfel, so dass aus dem Roll & Write- ein Flip& Write-Spiel entsteht.
Egal, ob Würfel oder Karten als Zufallsgeneratoren – es braucht immer den besonderen Dreh, um angesichts des gesättigten (übersättigten?) Marktes noch Aufmerksamkeit zu erzeugen. Was das sein kann, zeige ich im folgenden anhand dreier Beispiele aus dem aktuellen Angebot, an «Voll verplant», «The Border» und «Dice Cup».
Ad hoc-Entscheidungen
«Voll verplant»: Was im Titel angekündigt wird, dürfte in diesem Flip & Write-Spiel nicht
passieren – dass man seine Aktionen so schlecht plant, dass man die Endstationen der U-Bahnlinien auf dem Wertungsblock vor Spielende nicht mehr erreicht. Voll verplant, welch ein Pech! Nur, die Planung ist in «Voll verplant» nicht unbedingt einfach. Denn die verschiedenen U-Bahnnetze sind engmaschig, manchmal verlaufen die einzelnen Linien parallel, dann wiederum kreuzen bzw. verzweigen sie sich. Zudem sind sie unterschiedlich lang, und schnell stellt man fest, dass man am besten vorwärtskommt, indem man versucht, einzelne Linien gleich mehrfach zu nutzen, Streckenplanung eben. Ohne solche Mehrfachnutzung geht es gar nicht, denn die Ressourcen, die man zum Fahren braucht, sind ungleich auf die Linien verteilt.
Erschwert wird die Streckenplanung dadurch, dass die Anzahl der Stationen, die man pro Zug auf einer Linie abhaken darf, zufällig bestimmt wird. Je nach dem, welche Karte aufgedeckt wird, sind es drei, vier, fünf oder sechs Stationen. Angesichts dieser Unberechenbarkeit muss man bis zu einem gewissen Grad ad hoc entscheiden, die Kreuze also vor allem dort setzen, wo man erstens nichts verbaut und zweitens Linien wählt, die in späteren Zügen nochmals genutzt werden können. Immer kann man auch auf Karten mit Zusatzeffekten hoffen, aber auch bei diesen ist es so, dass man nie weiss, wann sie aufgedeckt werden.
Aber es ist gerade diese Planung mit einigen Unwägbarkeiten, die den Reiz von «Voll verplant» ausmacht. Für Abwechslung sorgen auch die unterschiedlichen Wertungsblöcke: Auf dem Netz der Amsterdamer U-Bahnen muss man ganz anders planen als auf jenem im Berliner Untergrund.
Zwang und Freiheit
«The Border»: Fahren wir in «Voll verplant» U-Bahnlinien ab, versuchen wir in «The Border» möglichst viele von den neun vorhandenen Gebiete mit farbigen Grenzfeldern zu umschliessen. Würfeln und die entsprechenden Farbfelder ankreuzen, lautet hier der einfache Mechanismus. Dabei führen der aktive Spieler – das ist der oder die Spielende, welche die Würfel wirft – und die übrigen Mitspielenden unterschiedliche Aktionen aus. Während der aktive Spieler bei seiner Aktion stark eingeschränkt ist, können die anderen viel freier operieren.
Von diesem Wechselspiel zwischen Zwang und Freiheit lebt «The Border». Das Besondere daran ist, dass die freieren Züge einem die Möglichkeit geben, Situationen zu schaffen, von denen man dann später, wenn man als aktiver Spieler wieder an der Reihe ist und nur eingeschränkt agieren darf, profitieren wird. Ohne gute Übersicht und taktische Planung funktioniert das allerdings nicht, und selbst dann: Der Zufall kann einem bei der Grenzziehung immer wieder einen Strich durch die Rechnung machen. Damit muss man halt leben, wenn ein Spiel mit Würfeln auf dem Tisch liegt. Wer das nicht mag, soll lieber die Hände davon lassen.
Drei kurze Sekunden
«Dice Cup»: Seine Verwandtschaft mit «Yahtzee» kann «Dice Cup» nicht verstecken: Würfel, Würfelbecher, Wertungsblock, fertig. Auch die Ankreuzmöglichkeiten erinnern an das Vorbild: Nur Vierer, Fünfer oder Sechser, nur alle Würfel einer der sechs Farben, ein Feld für alle Paschs pro Farbe, eines für alle Einer, Zweier und Dreier und schliesslich das «Dice Cup»-Feld, in das alle Augenzahlen notiert werden.
Bei dieser Nähe stellt sich unweigerlich die Frage, ob es überhaupt einen Grund gibt, «Dice Cup» noch zukaufen, wenn man doch schon ein «Yahtzee» oder «Kniffel» in seiner Sammlung hat. Oder anders gefragt: Was ist das Besondere an diesem neuen Roll & Write-Spiel?
Ganz einfach. Wer an der Reihe ist, würfelt, hebt den Becher hoch und hält diesen oben, so dass die Würfel für alle Teilnehmenden gut sichtbar sind. Vorsichtig wird der Becher nach drei Sekunden wieder über die Würfel gestülpt, vorsichtig, damit sich das Ergebnis nicht verändert. Die Würfel bleiben so lange verdeckt liegen, bis alle auf ihrem Block die Kategorie angekreuzt haben, die sie nun werten möchten. Nun wird der Becher wieder angehoben, worauf jeder sein Ergebnis wertet und die Punktzahl in das zugehörige Feld schreibt. Jede Kategorie steht pro Spiel nur einmal zur Verfügung.
Drei Sekunden liegen die zwölf Würfel in zwei verschiedenen Grössen offen – das ist verdammt kurz. Denn in dieser Zeit muss man zwölf Augenzahlen, sechs Farben in alle möglichen Kombinationen erfassen und sich das Ganze erst noch merken. Das ist kein Schleck! Glücklich sind Menschen, die über ein optisches Gedächtnis verfügen und das Würfelergebnis als Bild abspeichern können. Das erleichtert die Auswertung enorm. Allen andern bleibt nur, sich auf bestimmte Merkmal zu konzentrieren, die Farbe oder die Paschs.
«Dice Cup» spielt sich ganz anders als «Kniffel». Es ist spannend zu beobachten, wie zwar alle dasselbe Würfelergebnis sehen, aber unterschiedliche Schlüsse daraus ziehen. «Dice Cup» ist mehr Konzentrations- und Merkspiel, dem aber das Zockerhafte nicht ganz fehlt – so viel Tribut an die Spielfamilie, zu der es zweifelsohne gehört, muss sein.
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Voll verplant: Flip & Write-Spiel von Hisashi Hayashi für 1 bis 6 Spielerinnen und Spieler ab 8 Jahren. Schmidt-Spiele. ca. Fr. 17.-
The Border: Flip & Write-Spiel von Michael Kiesling und Reinhard Staupe für 2 bis 4 Spielerinnen und Spieler ab 8 Jahren. Nürnberger Spielkarten (NSV). Fr. 22.50
Dice Cup: Roll & Write-Spiel von Christoph Cantzler und Torsten Marold für 2 bis 6 Spielerinnen und Spieler ab 8. Jahren. Drei Hasen-Spiele. Fr. 28.-
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Hinweis: Der Autor ist beratendes Mitglied der Jury «Spiel des Jahres». In dieser Funktion nimmt er jedoch an den aktuellen Nominierungs- und Wahlverfahren nicht teil.
KNIFFEL war in der Tat das Stichwort zum Durchbruch im Entwicklungsprozess von DICE CUP. Allerdings erst zum Schluss und nur für die Wertung. Das Spiel selbst fußt auf wissenschaftlichen Erkenntnissen zur selektiven Wahrnehmung. Demnach können wir in 3 Sekunden gar nicht alle Details des Wurfergebnisses wahrnehmen, obwohl wir es vor Augen haben. Wir sehen punktuell und konstruieren daraus ein Bild, das ab einer bestimmten Komplexität immer weniger der Wirklichkeit entspricht. Die Lücken füllt unser Gehirn praktischerweise auf, frei nach dem Motto: Wird schon passen. Das sorgt im Spiel immer wieder für Überraschungen, weil wir alle ein eigenes Bild von der Wirklichkeit haben. Wie also vorgehen? Bei DICE CUP können wir es dem Zufall überlassen, was uns „ins Auge springt“ oder aber, wie von Synes Ernst beschrieben, nach bestimmten Kategorien Ausschau halten. Weil jede Kategorie ja nur einmal gewertet werden darf, empfiehlt es sich deshalb gerade auf der Zielgeraden, nur auf die offenen Kategorien bzw. die entsprechenden Würfel zu achten. Sonst lässt man sich von einem wertvollen Ergebnis, zum Beispiel 6 Fünfer, blenden, obwohl man in der Kategorie bereits ein Ergebnis notiert hat… Wie ärgerlich, wenn man dann vor lauter Freude nicht mehr gesehen hat…
Ich danke Christoph Cantzler, dem Autor von „Dice Cup“, für seine wertvolle Ergänzung.