Es gibt Spielegattungen, bei denen sofort alles klar ist: Bei Laufspielen bewegen wir unsere Figuren von A nach B, vom Start ins Ziel. In Sammelspielen wird gesammelt, was das Zeug hält, während in Legespielen genau das Gegenteil def Fall ist. Dass es in Gedächtnisspielen vor allem ums Merken und Erinnern geht, erfahren wir mittlerweile auch in der TV-Werbung. Aber ehrlich, wer kann auf Anhieb sagen, was ein Optimierungsspiel ist?
Ich verzichte auf eine abstrakte Definition, sondern versuche im folgenden anhand eines Beispiels zu erklären, was ein Optimierungsspiel ist und welches die besonderen Herausforderungen dieser Spielegattung sind. Beim Beispiel handelt es sich um «Witchstone» von Reiner Knizia und Martino Chiacchiera. Es eignet sich insofern als «Studienobjekt», da es nach Meinung der Jury «Spiel des Jahres» zu den empfehlenswerten Spielen des aktuellen Jahrgangs zählt.
Magische Welt voller Hexen und Zauberer
Bei «Witchstone» tauchen wir in eine magische Welt voller Zauberer und Hexen ein. Aus Märchen und Sagen wissen wir, wie diese Welt aussieht (oder wie wir sie uns vorzustellen haben) – farbig, opulent, überwältigend. Dementsprechend ist die Austattung von «Witchstone» üppig, die Gestaltung farbig, die Spielanleitung umfangreich und ausführlich, die spielerischen Möglichkeiten – für uns das Wichtigste – schier endlos vielfältig.
Wir entwickeln unter anderem Zauberformeln, legen ein Netz magischer Energie, bewegen unsere Hexen und Zauberer, setzen den Zauberstab ein oder versuchen, Prophezeiungen zu erfüllen. Solcher Reichtum, der beinahe alle erschlägt, die «Witchstone» zum ersten Mal vor sich liegen haben, ist nicht zufällig. Er macht den Kern des Optimierungsspiels aus: Es gibt hier nicht nur einen Weg zum Ziel, sondern (gefühlt) unendlich viele.
Wenn es nun in der Spielanleitung heisst, dass nicht alle Optionen «jederzeit» zur Verfügung stehen, bedeutet das für alle Teilnehmenden nur eines: Entscheiden, entscheiden, entscheiden. Manche tun sich schwer damit und verzögern den Ablauf, was für die Mitspielenden mitunter recht mühsam ist. Ich halte mich bei solchen Spielen lieber an die Devise: Ein Spiel ist ein Spiel, und wenn es einmal nicht so gelaufen ist wie erhofft, folgt eine neue Runde mit einer neuen Chance. Und abgesehen davon: In «Witchstone» gibt es so viele Entscheidungsmöglichkeiten, dass man unmöglich alle durchscannen kann, bevor man seinen Zug macht. Also lieber kurz und schmerzlos als lang und für die Runde mühsam.
Wichtige Stellschrauben
Was aber nicht bedeutet, dass man in «Witchstone» einfach drauf los spielen sollte. Jede der sechs Aktionsarten hat ihre spezifische Eigenheit und Stärken. Es lohnt sich in jedem Fall, vor einer ersten Runde die ausführlichen Beschreibungen in der Spielanleitung zu lesen (herunter laden hier). Je öfter man «Witchstone» spielt, desto besser lernt man das Wechselspiel und den Zusammenhang von Aktion und Wirkung kennen. Durch Spielen und Tüfteln kommt man dem Geheimnis von «Witchstone» näher, das darin besteht, herauszufinden, an welchen Stellschrauben man drehen muss, um eine ganz bestimmte Wirkung zu erzielen.
Die Vorlage, die uns die beiden Autoren Reiner Knizia und Martino Chiacchiera liefern, ist grandios und von enormer Spieltiefe. Sie lässt uns richtiggehend in die Vielfalt der spielerischen Möglichkeiten abtauchen, und das genau elf Runden lang, und dann ist fertig, der «Meister des Hexensteins» erkoren. Das nächste Mal wieder elf Runden lang, nach denselben Regeln zwar, aber ein völlig anderes Spiel, aber mit ebenso tollem Spielerlebnis.
Wenig direkte Konfrontation
Optimieren heisst auch, dass man nicht primär die direkte Konfrontation mit den Mitspielenden sucht, sondern sich vor allem darauf konzentriert, aus der aktuellen Konstellation auf dem Brett für sich das jeweils Beste herauszuholen. Trotzdem sollte man die Konkurrenz nicht aus den Augen verlieren. Man kann sich nämlich Vorteile verschaffen, wenn man zu Beginn seines Zuges unter den verschiedenen Aktionsmöglichkeiten eine wählt, mit der man den Handlungsspielraum der andern einschränken kann. Da bei «Witchstone» Wettbewerbs- und Zeitfaktoren oft eine Rolle spielen – wer als Erster etwas macht, erhält zusätzliche Aktionen oder Siegpunkte – , lohnt es sich durchaus, nicht nur solistisch für sich allein zu spielen.
Wenn es einen Moment oder einen Punkt gibt, der in «Witchstone» wesentlich für den Spielverlauf ist, dann dieser: Man muss unbedingt darauf achten, dass man die Hexenteile, mit denen man seine Aktionen auslöst, so auf seinen Spielplan (Hexenkessel) legt, dass man im darauffolgenden Zug möglichst viele Aktionen zur Verfügung hat. Am ertragreichsten sind so genannte Kettenzüge, das sind mehrere Aktionen hintereinander, mit denen mit nicht nur viele Punkte holt, sondern auch seine Mitspielenden fast zur Verzweiflung treibt.
Friedliche Stimmung
Nun, so schlimm ist es nicht. Denn in «Witchstone» bekommt man in der Regel nach jeder Aktion Punkte. Solche Belohnungen sorgen für eine grundsätzlich friedliche Stimmung. Und wenn der Vorsitzende der Jury «Spiel des Jahres» den diesjährigen Preisträger «Cascadia» als «Wohlfühlspiel» bezeichnet hat, so trifft dies bis zu einem gewissen Grad auch auf «Witchstone» zu. Allerdings auf einem viel höheren Niveau, das von den Teilnehmenden einiges abfordert und die Jagd nach Siegpunkten aufwändiger macht. Deshalb ist «Witchstone» zu Recht im sogenannten Kenner-Bereich (geübtere Spielerinnen und Spieler) angesiedelt.
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Witchstone: Strategisch-taktisches Optimierungsspiel von Reiner Knizia und Martino Chiacchiera für 2 bis 4 Spielerinnen und Spieler ab 12 Jahren, R & R Games/Huch (Vertrieb Schweiz: Carletto AG, Wädenswil), ca. Fr. 65.-
Hinweis: Der Autor ist beratendes Mitglied der Jury «Spiel des Jahres». In dieser Funktion nimmt er jedoch an den aktuellen Nominierungs- und Wahlverfahren nicht teil.