Es gehört wohl zu den ungeschriebenen Gesetzen rund um die jährliche Verleihung von «Spiel des Jahres», dass mindestens ein Spiel völlig unerwartet unter den drei Anwärtern auf die begehrte Auszeichnung auftaucht. Heuer kam diese Rolle dem kooperativen Party-Spiel «Top Ten» zu.
Zu den Überraschten gehörte auch ich. Unter den vielen Neuheiten war mir das simpel aufgemachte «Top Ten» gar nicht aufgefallen. Erst die Nominierung von Mitte Mai weckte meine Neugier (was nebenbei auch zeigt, wie wichtig die Scout-Funktion ist, welche die Jury ausübt). Und bereits nach den ersten Runden war für mich klar, dass «Top Ten» fortan zu meinen Favoriten unter den Party-Spielen zählen würde.
Party-Spiele, das heisst Spiele mit hohem Kommunikations- und Unterhaltungspotenzial für grössere Runden, gibt es zuhauf. Ein Neuling muss deshalb unbedingt mit einer Besonderheit aufwarten, mit der er sich von der starken Konkurrenz unterscheidet. «Top Ten» hat dieses Besondere.
Neuling mit Besonderheit
In jeder Runde übernimmt ein Spieler oder ein Spieler die Rolle des «Käptens». Seine erste Aufgabe ist es, unter zwei möglichen das Thema zu wählen, um das es in dieser Runde geht. Auf insgesamt 125 Karten, die im Spiel enthalten sind, sind 500 Themen gedruckt, eine riesige Auswahl. Bevor es richtig los geht, bekommen alle Teilnehmenden verdeckt je eine Zahlenkarte im Wert von 1 bis 10.
Was sind mögliche Themen? Um die Spielmechanik zu erklären, wähle ich folgendes Beispiel: «Es ist schon wieder Valentinstag! Was wirst du verschenken? Von ganz schlecht (1) bis perfekt (10).» Als erster gibt nun der Käpten seine Antwort, wobei er sich an der nur ihm bekannten Zahl auf seiner Zahlenkarte orientiert. Nun folgen die Mitspielenden und antworten auf das gewählte Thema, möglichst aber so, wie es ihrer zugeteilten geheimen Zahl entspricht.
Warum der Käpten Hinweise benötigt
Nun muss der Käpten die richtige Reihenfolge der Antworten raten, aufsteigend von der kleinsten bis zur grössten Zahl. Für jeden Fehler gibt es Strafpunkte, die dem allgemeinen Konto belastet werden. Sind es zu viele, haben wir, wie das in einem kooperativen Spiel halt so ist, alle verloren, doch lieber freuen wir uns über den gemeinsamen Erfolg.
Kooperativ bedeutet in «Top Ten», dass alle in der der Runde mitdenken und sich überlegen, wie sie mit ihrer individuellen Antwort auf das vorgegebene Thema einen möglichst guten Beitrag leisten, um das Spielziel zu erreichen. Der Käpten soll ja die Antworten von 1 bis 10 richtig einordnen, weshalb er entsprechende Hinweise oder Signale benötigt. Wenn nun jemand in unserem Beispiel mit dem Geschenk zum Valentinstag «Mausefalle» sagt, wird der Käpten dies zweifelsohne als «ganz schlecht» einstufen, während er «Rosen», «Dinner bei Kerzenlicht» oder «Diamantring» auf der Skala ganz oben platzieren dürfte.
Je mehr, desto schwieriger
Je höher die Zahl der Teilnehmenden in der Runde, desto schwieriger ist die Aufgabe für den Käpten. Bei vier Antworten ist das einfacher als bei sechs oder acht. Umso wichtiger ist deshalb auch das kooperative Zusammenspiel der Gruppe. Entscheidend ist dabei, wie man auf das reagiert, was die Personen, die vor mir an der Reihe sind, gesagt haben.
Angenommen meine Geheimzahl, die den Platz meiner Antwort bestimmt, sei 7. Demnach sollte ich in meiner Antwort ein Geschenk nennen, das fast perfekt ist, aber doch nicht zu perfekt, weil nachfolgende Spieler noch die Geheimzahlen 8, 9 und 10 haben könnten und dafür entsprechende Geschenke brauchen. Mit einem «Diamantring» würde ich ihnen die Sache sehr schwer machen, also weiche ich auf «Rosen» aus. Was aber, wenn in der Runde jemand vor mir «Konzertbesuch» gesagt hat? Welcher Geheimzahl könnte das entsprechen, der 6 oder der 8? Ich bleibe in meinem Fall mit der 7, die ja nur ich kenne, bei den «Rosen».
Aufgeschmissen ohne Unterstützung
Ob das der Käpten auch so sieht? Er muss sich alle Antworten anhören, bevor er versucht, sie in die richtige Reihenfolge zu bringen. «Rosen», «Mausefalle», «Konzertbesuch», «Gummibärchen», «Pantoffeln», «Spaziergang bei Mondschein», «Kugelschreiber», «Pizza» sind genannt worden – eine echte Herausforderung! Allein schon dieses Beispiel zeigt, wie entscheidend die Kooperation in der Gruppe ist. Ohne Unterstützung ist der Käpten aufgeschmissen, werden die Misthäufchen (gleich Strafpunkte) immer zahlreicher.
Im Verlauf von «Top Ten» kommt es immer wieder zu witzigen Situationen, dies nicht nur, wenn man seinen Antworten in mimischer Form darbieten muss. «Top Ten» reisst von den ersten Runden an mit, man lacht viel und staunt darüber, wie unterschiedlich und überraschend die Mitspielenden dieselbe Aufgabe lösen, mit welchem Witz und welcher Kreativität. Die Zusammenarbeit in «Top Ten» bedeutet nicht in erster Linie gemeinsames Planen und Optimieren, um miteinander eine Aufgabe zu lösen, wie das bei kooperativen Spielen meistens der Fall ist. Hier geht es vor allem darum, einander zuzuhören, aufeinander einzugehen, sich in die andern hineinzudenken und dann im Rahmen enger Vorgaben (eigene Geheimzahl, richtiges Signal an den Käpten) rasch, flexibel und kreativ zu reagieren. Ein tolles Spielerlebnis ist das Ergebnis.
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Top Ten: Partyspiel von Aurélien Picolet für 4 bis 9 Spielerinnen und Spieler ab 12 Jahren, Cocktail Games/Asmodée, Fr. 28.50
Hinweis: Der Autor ist beratendes Mitglied der Jury «Spiel des Jahres». In dieser Funktion nimmt er jedoch an den aktuellen Nominierungs- und Wahlverfahren nicht teil.