«Cascadia» ist ein taktisches Legespiel. Und das sagt schon viel aus über das, was uns in den nächsten 30 bis 45 Minuten erwartet. Nicht hektische Aktionen mit Draufhauen und Rauswerfen, sondern ein eher ruhiges Spielerlebnis, bei dem wir langsam und stetig eine Landschaft mit Wiesen, Wäldern, Seen und Bergen gestalten und diese gleichzeitig mit Bären, Hirschen, Lachsen. Bussarden und Füchsen besiedeln.
Einzelne Spannungsmomente fehlen, das ist bei den meisten Legespielen der Fall. Ebenso charakteristisch für diese Spielgattung ist aber auch, dass der Spannungsbogen im Verlauf des Spiels zunimmt, zuerst kaum spürbar, dann immer mehr, je näher das Spielende rückt. Die Äusserungen am Tisch sind entsprechend verräterisch. «Aber nicht doch!» heisst es leicht frustriert hier, «super, dieses Teil hat mir gerade noch gefehlt!» jubelt man zufrieden dort.
Die Wertung macht es aus
Wenn es in einem Legespiel einen Spannungshöhepunkt gibt, ist es der der Wertung. Denn jetzt wird auf einen Schlag sichtbar, was im Spielverlauf mehr oder weniger verborgen war – der Punktestand, wer vorne, wer hinten liegt. Das Schöne an Legespielen ist ja gerade, dass man darüber während des Spiels nicht so richtig Bescheid weiss. Ich weiss von vielen Spielerinnen und Spielern, dass sie dies schätzen, weil sie es als demotivierend erleben, wenn jemand vorne weg zieht und nicht mehr eingeholt werden kann. Frustriert und lustlos machen sie dann weiter, was ja nicht dem Sinn des Spielens entspricht.
Die grosse Beliebtheit von Legespielen hängt wesentlich damit zusammen, dass die Konzentration auf die Schlusswertung für den Rest des Spielverlaufs einen Raum schafft, in dem die Spielenden sich frei, ohne Rechnerei, ohne dauernden Blick auf den Punktestand und ohne stressendes (und meist frustrierendes) Vergleichen entfalten können. Das macht enormen Spass. Und das erleichtert es auch, mit einer Niederlage umzugehen, wenn sich bei der Wertung herausstellt, dass andere mehr Punkte erzielt haben.
Schnörkelloser Vertreter der Gattung
Mit dieser Charakterisierung der Legespiele ist bereits vieles über «Cascadia» gesagt. Es ist ein schnörkelloser Vertreter der Gattung. Der Ablauf orientiert sich am bekannten Muster. Aus einer Auslage, die man unter bestimmten Voraussetzungen ein wenig modifizieren kann, nimmt man Landschafts- und Tierplättchen. Weil in der Wertung nur jene Landschaftsplättchen zählen, die Teil des jeweils grössten zusammenhängenden Gebietes sind, legt man die aufgenommenen Wald-, Prärie-, Berg- oder Fluss-Plättchen entsprechend ab. Die Ablage der Tierplättchen ist ein wenig kniffliger. Wertungskarten geben nämlich für jede Tierart vor, welche Anordnung wieviele Punkte abwirft. Ausser bei der Einstiegsvariante werden die einzelnen Tierarten unterschiedlich gewertet. Je nach Können der Spielrunde ist es dank unterschiedlichen Wertungskarten möglich, den Schwierigkeitsgrad der Herausforderungen zu variieren.
«Cascadia» ist rasch erklärt, der Einstieg einfach, der Spielverlauf über die 20 Runden, nach denen das Spiel beendet ist, immer gleich. Dies hat man schnell intus, was «Cascadia» auch zum Familienspiel prädestiniert, das heisst zum Spiel, bei dem Jung und Alt gleichberechtigt mitmachen können, zum Spiel auch, das Menschen anzusprechen vermag, die nicht unbedingt Vielspieler sind und die sich nicht gerne mit komplexen Regeln herumschlagen. Diesem Typ von Spielern kommt auch der Glücksfaktor entgegen: Egal, wie «stark» jemand ist, sie oder er muss sich mit jenen Landschafts- und Tierplättchen abfinden, welche die aktuelle Auslage bilden.
Abwechslung und neue Reize
Aber ist dieses Immergleiche auch spannend und interessant? Hat «Cascadia» überhaupt so etwas, was man als Aufforderungscharakter bezeichnen könnte, der sich darin ausdrückt, dass man nach einer Runde gleich eine weitere spielen und dabei Neues entdecken möchte? Ja, «Cascadia» hat das.
Für Abwechslung und immer neue Reize sorgen die verschiedenen Wertungskarten, die man für jede Runde anders kombinieren kann. So präsentiert sich bei jedem Spiel eine andere Herausforderung. Wer Lust hat, kann zudem eine der zahlreichen, zum Teil recht kniffligen Varianten ausprobieren, die in der Spielanleitung beschrieben werden. Wiederholungslangeweile kommt da nicht auf. Reizvoll finde ich zudem das Nebeneinander und die Kombination von Landschafts- und Tierwertung. Sie zwingt die Spielenden auf sanfte Art und Weise, ganzheitlicher zu denken und ihre Strategie breiter aufzustellen. Sich allein auf die Tiere bzw. auf die Landschaften zu konzentrieren, bringt nichts.
Ein Spiel für alle
«Cascadia» ist kein Aufregerspiel, es polarisiert nicht, nervt nicht. Die Jury «Spiel des Jahres» spricht gar von «Wohlfühlspiel». In diesem Sinne ist es ein Spiel für alle im Geiste etwa von «Carcassonne». Wobei zwischen den beiden ein riesiger Unterschied besteht: Während bei «Carcassonne» die Entwicklung der Landschaft gemeinsam erfolgt und das laufende Geschehen inkl. aktueller Punktestand absolut transparent ist, werkelt man bei «Cascadia» individuell vor sich hin und bleibt dabei bis zum Schluss im Ungewissen, woran man ist.
Beide Wege haben ihren Reiz, beide sind Garanten für ein gutes Spielerlebnis, und beide hat die Jury «Spiel des Jahres» dafür mit ihrer höchsten Auszeichnung bedacht, 2001 «Carcassonne» und – eben jetzt – 2022 «Cascadia».
Cascadia: Taktisches Legespiel von Randy Flynn für 1 bis 4 Spielerinnen und Spieler ab 8 Jahren. Kosmos-Spiele. ca. Fr. 40.-
Hinweis: Der Autor ist beratendes Mitglied der Jury «Spiel des Jahres». In dieser Funktion nimmt er an den aktuellen Nominierungs- und Wahlverfahren nicht teil.