Eingefleischte Kartenspielerinnen und -spieler müssen sich zuerst einmal zurückhalten. Reflexartig würden sie nämlich die ausgeteilten Karten aufnehmen und gleich sortieren, nach Farben oder Zahlenwerten geordnet. Das erleichtert die Übersicht. Bei «Scout», dem neuen kleinen Kartenspiel, ist dies streng verboten. In der Reihenfolge, wie sie aufgenommen worden sind, hält man die Karten in der Hand. Diese Regelbestimmung ist selten. Wer aber «Bohnanza» oder «Krass Kariert» kennt, ist mit ihr schon vertraut.
Noch etwas ist bei «Scout» ungewöhnlich: Auf jeder Karte gibt es zwei Zahlenwerte, zum Beispiel 7 und 10, 4 und 8 oder 6 und 2. Es gilt jeweils der Wert an der Kopfseite der Karte. Während des Spiels dürfen die Karten nicht gedreht werden, ausser zu Beginn jeder Runde: Hier darf man seine Handkarten als Gesamtes umkehren, wenn man das Gefühl hat, die so entstandene neue Reihenfolge verspreche mehr Erfolg.
Show und Scout
In «Scout» werden im Unterschied zu einem gewöhnlichen Stichspiel nicht einzelne Karten ausgespielt. Man legt Zahlenreihen oder mehrere gleiche Karten ab und versucht dabei, die auf dem Tisch liegende Auslage der Vorspielerin oder des Vorspielers zu übertreffen. Eine Reihe mit 4/5 wird von 6/7 geschlagen. Oder von 1/1/1. Stärker als diese Auslage wäre wiederum 3/3/3 oder aber 2/3/4/5. Der entsprechende Spielzug heisst «Show». Wer nicht stechen kann, nimmt sich von der Auslage die rechts- oder linksliegende Karte und steckt sie zu seinen Handkarten. Den Ort und den Wert darf man frei wählen. Dieser Spielzug nennt sich «Scout». Der gescoutete Spieler bekommt einen Siegpunkt, und jede Karte, die man mit seiner Show sticht, bringt ebenfalls einen Siegpunkt. Karten, die man zum Rundenende noch auf der Hand hält, werden als Minuspunkte gewertet. Fertig ist eine Runde, wenn eine Spielerin oder ein Spieler seine Handkarten als Erste/r los geworden ist.
Keine Veränderungen
Keine Veränderungen! Dieses Prinzip gilt nicht nur beim Aufnehmen der Handkarten zu Beginn jeder Runde, sondern während des ganzen Spiels. Das bedeutet mit andern Worten, dass man die Karten, die man ausspielen möchte, nicht frei wählen kann. Sie müssen auf der Hand nebeneinander aufgereiht sein.
Lässt denn ein derart enges Regelkorsett ein vernünftiges Spiel überhaupt zu? fragt man sich gleich nach der wegen der Minimalschrift mühsamen Lektüre der Spielanleitung. Solche Bedenken sind unberechtigt. Denn es sind gerade erst diese strengen Vorgaben, die «Scout» zu einem Kartenspiel der Topklasse machen.
Neue Möglichkeiten aus dem Spiel heraus
Die Zwänge bestehen nur theoretisch. Denn aus dem Spiel heraus ergeben sich laufend neue Möglichkeiten zum Ausspielen. Indem ich aus der Mitte meiner Handkarten drei gleiche Karten herausnehme und auf den Tisch lege, verändere ich damit gleichzeitig die Reihenfolge der Handkarten. Ein Beispiel: Aus 3-4-2-2-2-5-6 kann so durch das Ausspielen von 2-2-2 die starke Reihe 3-4-5-6 werden. Andere Möglichkeiten ergeben sich durch das Scouten, bei dem man dank einer aufgenommenen Karte in seiner Hand neue Zahlenfolgen schaffen oder bestehende verstärken kann.
Handkartenmanagement ist alles
Nur ergibt sich das nicht von alleine. Entscheidend ist das Kartenmanagement. Dazu gehören das Einschätzen sowohl seiner eigenen Hand als auch der ausliegenden Karten, die Analyse sowie das Kombinieren der verschiedenen Möglichkeiten. Gefragt sind auch taktisches Geschick und das Einschätzen des richtigen Moments. Wann lohnt es sich beispielsweise, die Auslage auf dem Tisch durch Scouten (Wegnehmen einer Karte) zu schwächen und dadurch dem nachfolgenden Spieler die Aufgabe zu erleichtern, gleichzeitig aber meine eigene Hand zu verstärken? Ohne gutes Zeitmanagement bringt selbst das beste Kartenmanagement nicht. Deshalb muss man in «Scout» warten können, bis der richtige Zeitpunkt für den Coup da ist. Diesen sollte man nicht verpassen, sonst bleibt einem nach einer geschickten Vorbereitung seiner Kartenhand nur der Ärger darüber, dass einem die liebe Konkurrenz die grosse Show vermasselt hat. Emotionen pur!
Ein Muss
Die grosse Show? Ja, in «Scout» schlüpfen wir in die Rollen von Zirkusdirektoren, die Artistinnen und Artisten für ihre Shows suchen. Dass sie dabei auch bei ihrer Konkurrenz reinschauen und Leute abwerben, mit denen sie später brillieren können, gehört zum Geschäft. Das Thema spielt überhaupt keine Rolle. So oder so ist «Scout» für Menschen, die Kartenspiele mögen, ein Muss. Seine aktuelle Nominierung zum «Spiel des Jahres» ist verdient, denn so viele spielerische Möglichkeiten in einer so kleinen Verpackung trifft man selten.
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Scout: Kartenspiel von Kei Kajino für 2 bis 5 Personen ab 9 Jahren, ca. Fr. 25.– Die ideale «Scout»-Runde besteht aus 3 oder 4 Mitspielenden.
Hinweis: Der Autor ist beratendes Mitglied der Jury «Spiel des Jahres». In dieser Funktion nimmt er an den aktuellen Nominierungs- und Wahlverfahren nicht teil.